Der Wanderer am Weltenrand, so berichtet Camille Flammarion 1888, war ein naiver Mensch des Mittelalters, der eine Stelle entdeckte, wo Himmel und Erde sich zwar berührten, aber nicht gut verschweißt waren. So war er in der Lage, einen Blick hinter den Horizont zu werfen.1
Der bekannte Holzstich zu der Geschichte dient bis heute als Illustration der kopernikanischen Wende und anderer Zäsuren der Wissenschaftsgeschichte. Das Motiv ist uns durch moderne dystopische Literatur ebenfalls bekannt: Die Protagonistin stolpert durch Zufall hinter die Bühne der Welt und wird auf die dort verborgenen Mechanismen aufmerksam, die nicht unbedingt zum Vorteil aller Menschen ihre Geschicke bestimmen.
Aufmerksamkeit ist eine knappe und begehrte Ressource, die zudem sehr unfair verteilt ist. Der moderne Mensch verschwendet keinen Gedanken daran, dass er sauberes Trinkwasser aus dem Wasserhahn bekommt oder jederzeit Strom hinter den zahlreichen Steckdosen vermuten darf. Im Digitalen treten physikalische Objekte sogar zur Gänze in den Hintergrund: Alle lesen den Online-Artikel, aber niemand sieht den Bildschirm. (Die Leserinnen des Blogs »Faire Computer« einmal ausgenommen.)
Rücken wir für einen Augenblick die unsichtbaren Träger digitalen Medien und deren Entstehung in den Vordergrund — und nun? Reicht der Blick in die Werkhallen, die so offensichtlich die unfairen Arbeitsbedingungen zeigen, um eine Handlungsänderung zu bewirken? Wieso schaffen wir es, erst einen Artikel über ausgenutzte Arbeiterinnen von Elektronikfirmen zu lesen, nur, um danach per Twitter erfreut mitzuteilen, dass man sich soeben ein neues Smartphone gekauft habe?
Beim Versuch der Beantwortung dieser Frage stößt man schnell auf ein Ohnmachtsgefühl, auf die Meinung, es sei eben so, und man könne sowieso nichts ändern. Der Computerpionier und Gesellschaftskritiker Joseph Weizenbaum hat sich über diese Haltung furchtbar aufgeregt. Er rief uns ins Gedächtnis, dass es Menschen sind, die die technische Welt gestalten. 2 Die Informatikerinnen haben in dieser von der Digitaltechnik geprägten Welt eine besondere Verantwortung! Wer, wenn nicht sie, sind dazu aufgefordert, den Diskurs in die Öffentlichkeit zu tragen?
Die Forderung nach fairen Computern, also Geräten, die unter sozial gerechten Bedingungen hergestellt wurden, hören wir jeden Sonntag von Politikerinnen und Herstellerinnen, nur um dann montags auf die komplizierte Welt- und Marktsituation hinzuweisen. Dann hat die interessierte, aber (am Computer!) arbeitende Bürgerin keine Zeit mehr, sich zu empören oder, schlimmer noch: sie hält die Empörung für sinnlos.
Zugegeben, die Größenordnungen können einschüchtern. Der xkcd-Zeichner Randall Munroe rechnet anhand des Energieverbrauchs aus, dass etwa der PR-Gigant Google momentan zwischen 1,8 und 2,4 Millionen Server betreibt, die zusammen über 300 Megawatt verbrauchen. 3 Das Thema Energieverschwendung ist unter dem Schlagwort »Green IT« sehr präsent, was beispielsweise die Selbstverpflichtung von Google zeigt, »saubere Energie« einzukaufen. 4 Das Thema »Fair IT« wird hingegen nicht so prominent behandelt.
Und nun? Informatikerinnen denken bei kleinen und großen Problemen zumeist an technische Lösungen; in diesem Fall kann es keine solche geben. Es ist eine bestimmte Haltung zur Welt gefragt, das Problem kann nur moralisch (und in der Folge dann politisch) angegangen werden. Technik kann für wunderbare Dinge eingesetzt werden, wie das Beispiel der computergestützten Schulbildung in Uruguay zeigt. 5 Der Verzicht auf den Einsatz von Technik würde auch humanitäre Projekte bremsen; es geht also um einen bewussten Umgang mit der Technik.
Ein Ansatz ist das Hinterfragen der scheinbar gottgegebenen, pardon: jobsgegebenen Obsoleszenz. Der gesunde Menschenverstand lacht über die eingeredete Notwendigkeit, alle sechs Monate ein neues Smartphone kaufen zu müssen – der innere Schweinehund hingegen giert auf das goldene Gadget. Es ist klein, elegant, portabel, man führt es stets mit sich herum; und vermisst es, wenn es an der Bushaltestelle nicht da ist oder die Chefin im Vortragsraum zehn Minuten auf sich warten lässt. Diese Kompaktheit ist ein Grund, warum beispielsweise Tantal-Kondensatoren anstelle von Elektrolytkondensatoren verwendet werden. Die Bedingungen in den zur Tantal-Produktion notwendigen Coltan-Minen sind der Leserin bekannt. 6
Das Thema »Fair IT« muss aufs Tapet gebracht werden. In zahlreichen Behörden und anderen öffentlichen Einrichtungen (wie Universitäten) können ohne großen Aufwand die Anforderungen an die zu beschaffende technische Ausstattung entsprechend ergänzt werden. Im Freundeskreis kann über das Thema gesprochen werden, eine entsprechende ePetition beim Bundestag oder andere politische Aktionen sind ohne allzuviel Aufwand möglich zu organisieren.
Informatikerinnen in Universitäten können entprechende Seminare oder Vorlesungen anbieten, Programmiererinnen können ihre Software mit einer entsprechenden Klausel versehen, dass sie nur auf »Fairen Computern« eingesetzt werden dürfen, Technikerinnen können Anleitungen zum Bau eines eigenen fairen Gadgets veröffentlichen – es gibt unzählige Möglichkeiten, wenn wir nur den Mut haben, unsere Aufmerksamkeit bei diesem Thema zu lassen und die Schweißnaht weiter aufzureißen.
Dieser Text ist in leicht redigierter Form erschienen in: »Faire Computer«, FIfF Kommunikation 4/2013, S. 74-75.
- http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k408619m.image.f167 [return]
- Beispielsweise im Dokumentarfilm von Jens Schanze: Plug & Pray, Deutschland, 2009, 1:17:15. [return]
- Randall Munroe, What if? – Google’s Datacenters on Punch Cards, 17.9.2013, URL: http://what-if.xkcd.com/63/ [return]
- Google Inc., Using green power – A closer look, URL: http://www.google.com/green/energy/use/#purchasing [return]
- Plan Ceibal ist ein ministeriell gefödertes Projekt, das allen Grundschulkindern im Land einen eigenen Computer kostenlos zur Verfügung stellt. URL: http://www.ceibal.edu.uy/Paginas/Quienes-Somos.aspx [return]
- Falls nicht, siehe beispielsweise das Blog »Faire Computer« oder das Schwerpunktheft »Faire Computer«, FIfF Kommunikation 4/2013. [return]