Subject: subscribe Master-Studiengang »Informatik & Gesellschaft«
Wer im Rahmen eines Informatikstudiums ahnt, dass viele informationstechnische Innovationen nicht immer nur Spaß machen, die Welt retten oder Geld bringen; wer ahnt, dass sich informatische Theorie nicht allein um Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen oder mathematische Optimierungsprobleme dreht, dass IT und ihre Nutzung insgesamt politische und soziale Sphären widerspiegeln und Teil dieser sind; dass mit Hilfe von IT-Systemen auch getötet wird und Menschen ersetzt werden; wer Softwarefehler ernst nimmt und das Verständnis von Elektrotechnik, formaler Sprachen, Datenbanksystemen und Softwareentwicklung als Teil digitaler Mündigkeit betrachtet und es entkoppeln kann und will von Geek- und Guruwissen, der oder die fand an deutschen Universitäten hin und wieder Lichtblicke im sogenannten Gebiet der »Informatik und Gesellschaft« (I&G) – hin und wieder eben. Für akademisch qualifizierte Informatikerinnen gehört gesellschaftlich verantwortungsvolles Handeln nicht zu den Kernkompetenzen, was angesichts des Lehrplans auch nicht verwunderlich ist.
Wieso also nicht endlich einen eigenen Master-Studiengang »Informatik und Gesellschaft« etablieren? Diese Idee haben drei Anhalterinnen der Turing-Galaxis auf der FIfF-Jahrestagung in München1 als Mitmach-Plakat ins Spiel gebracht. Und tatsächlich: Die Tagungsbesucherinnen haben mitgemacht. Viele von ihnen verweilten vor dem Plakat und es gab interessiertes und durchweg positives Feedback. Wo der Studiengang denn angeboten würde, fragten einige; doch so weit sind die Anhalterinnen noch nicht, sie sind zunächst noch auf archivarischer Suche nach den vielen Skripten, Video- und Audiomitschnitten, die in den letzten Dekaden der I&G dezentral an verschiedenen Hochschulen und Fachhochschulen oder in Netzwerken von Wissenschaftlerinnen an den Schnittstellen verschiedener Disziplinen, bei Bürgerrechtsaktivistinnen oder »Hobbyhackerinnen« entstanden sind. Bisher – und das fiel auch in den Gesprächen auf der Konferenz auf – war I&G stark personengebunden und die Nachhaltigkeit und Kanonisierung ihrer Erkenntnisse war dementsprechend eingeschränkt. Viele bereits vorhandene Materialien sind schwer zugänglich oder gar verschwunden.
Es zeigte sich etwa, dass ein Bedarf nach einer methodologischen Fundierung des I&G-Forschungsgebietes besteht. In einem Propädeutikum im ersten Semester sollte demnach in diskursanalytische, systemtheoretische, dialektische oder andere fortgeschrittene Praktiken wissenschaftlicher Arbeitsweisen eingeführt werden. Klassische, eigentlich zum Grundrepertoire der I&G gehörende, Vorlesungen zur Geschichte der Informatik, der Arbeitsweise des Computers als Digitalmedium und technikphilosophischer Grundlagen bieten sich ebenfalls für die erste Hälfte des (Master-)Studiums an. Des Weiteren wurden diverse Veranstaltungen für Themen an den Schnittstellen zur Kunst, zu Medien-, Film-, Kunst-, Kultur- oder Theaterwissenschaften angeregt.
Einige Konferenzteilnehmerinnen konnten bereits Ressourcen für das Selbststudium oder zumindest Hinweise auf durchgeführte Lehrveranstaltungen anbieten, und sie halfen auch bei ersten Ansätzen für eine Strukturierung des viersemestrigen Studienganges. So gibt es etwa an der Humboldt-Universität seit Jahren die Vorlesungsreihe »Digitale Medien« (Coy) mit zugehörigen Praktika, Teile davon stehen als Podcasts2 zur Verfügung und können als Materialien für den Studiengang dienen. Die Uni Hamburg stellt in ihrem Videocast-Portal »Lecture2Go« neben klassischen Informatikthemen auch eine Vorlesung zu »Informatik im Kontext« (Rolf) bereit. Auch außeruniversitäre Einrichtungen bieten sinnvolle Ressourcen zum Selbststudium an. So präsentiert das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz (ULD) Schleswig-Holstein etwa Interviews zur Geschichte und Programmatik des Datenschutzes in Deutschland (Rost).
Zu vielen bereits durchgeführten Veranstaltungen liegen jedoch keine Materialien (mehr) vor, hier würden sich die Anhalterinnen über sachdienliche Hinweise der Leserinnenschaft freuen. Während der Tagung erzählten einige Teilnehmerinnen beispielsweise innerhalb der Workshops über verschiedene Projekte, deren Materialien ebenfalls sehr gut für das Studienprogramm in Semester III und IV geeignet sind. So werden auf dem Theater-Campus der HTWG Konstanz Berufssituationen von Informatikerinnen im sogenannten Business-Theater nachgestellt – szenische Drehbücher für Rollenspiele in Bezug auf ethische Dilemmata oder aber auch vielleicht im Sinne des epischen Theaters Brechts können als aufklärerische Stücke hinsichtlich diverser Überwachungsszenarien des Alltags aufbereitet und bereitgestellt werden. Die vielen bereits vorhandenen Beiträge zur Rolle der Informatik in Rüstung und Militär, zur Kritik falscher Bilder der psychologischen Bedeutung des Computers in der Sozialisation und zum Umgang mit selbigem im Alter, zu umfassenden Materialien zur Geschlechterforschung in der Informatik, zu denen an den Universitäten in Freiburg, Bremen oder Berlin geforscht wurde und wird, sind willkommen. Auch die Seminare zu TOR und anderen Anonymisierungsdiensten, wie sie an der TU Dresden angeboten werden, oder Seminare zur Computerisierung der Arbeitswelt (bspw. Uni Bremen) reihen sich in die gesuchten Veranstaltungen ein. Ein weiterer wichtiger Bereich, der durch den Workshop zu FAIR IT auf der Tagung und den dort gezeigten Film »Behind the Screen« thematisiert wurde, ist die Erstellung von Handreichungen für Lehrerinnen zu diesem Thema. Das wirft auch die Frage eines allgemeinen Angebots lehrer- und schülergerechter Materialien aus der I&G für die Didaktik der Informatik auf. Ansätze dafür gibt es bereits im Projekt »Informatik im Kontext« (IniK), eine bundesweite Initiative Bildungsverantwortlicher aus Hochschule und Schule.
Dies sind nun viele, bei weitem nicht alle auf der Konferenz angeregten Inhalte, teilweise noch immer gesucht, teilweise sogar schon zumindest in Form von Ansprechpartnerinnen gefunden. Es dürfte klar sein, dass die Anhalterinnen noch weiter suchen und gern mal hier und da eine Weile mitfahren, um mehr zu hören und zu lernen. Das Ziel der Reise ist bewusst offen gehalten. Die I&G-Wissenschaft hat es schwer, tritt sie doch als Mahnerin, Bremserin und Kritikerin innerhalb der fortschrittsgetriebenen Informatik auf. Der Wunsch nach Institutionalisierung eines Masterstudiengangs steht im Spannungsfeld einer drittmittelgestützten Universitätslandschaft mit von Projekten auf Zeit enttäuschten Visionärinnen und der Notwendigkeit eine dem Menschen dienende Informatik zu professionalisieren und in ihrem Bestand abzusichern. Die Anhalterinnen halten daher zunächst alles, was sie von den erfahreneren Köpfen lernen können in ihrem Buch fest, das jeder Reisenden der Turing-Galaxis zugänglich und auf dessen Umschlag in freundlichen Buchstaben eingeprägt »KEINE PANIK« zu lesen ist. Der von vielen auf der Tagung geteilte Wunsch nach der weiteren Institutionalisierung der I&G im Rahmen eines solchen Studiengangs ist schließlich ohne Inhalte nicht realisierbar. Für Unterstützung bei weiteren Schritten zur Dokumentation und Zugänglichkeit des bereits Erkannten und Erreichten, sei es als Angebote oder Gesuche, Fragen oder Kritik, bedanken sich die anhalterinnen@turing-galaxis.de.